Release January 2022
EAN/UPC: 705304470220
Traumton CD: 4702
Lineup
Florian Favre: piano, prepared piano & vocals
1, 3, 8, 10 composed by Florian Favre, published by Traumton Musikverlag
12 composed by Cole Porter, published by Chappell Musikverlag GmbH
2, 4, 5, 6, 9, 11 composed by Joseph Bovet and 7 composed by Pierre Kaelin, arranged by Florian Favre
No piano overdubs
Recorded, mixed and mastered at Traumton Studios, Berlin
Produced by Wolfgang Loos
Info / Info english
Florian Favre – Idantitâ
Das bislang letzte Album des Florian Favre Trios, On A Smiling Gust Of Wind,ist schon eine gute Weile her, die Pause bis zum nun vorliegenden neuen Werk Idantitâhat natürlich auch mit der Pandemie zu tun. Denn an positivem Zuspruch und damit verbundener Motivation hat es dem Pianisten aus der Schweiz bislang nicht gefehlt. Schon früh war sich die heimische und deutschsprachige Presse einig: Favre ist originell und charmant, hochtalentiert und künstlerisch eigenwillig. On A Smiling…wurde sogar in England gelobt, etwa von ukvibe.org: „Favre’s style is wonderfully expressionistic. He plays with an assured touch, sometimes calm and thoughtful, sometimes lyrical and dynamic.“ Die Berner Zeitung Bund hob „kompositorische Finten, dramaturgische Wendungen oder üppige Groove-Passagen“ hervor, das österreichische Magazin Concerto „die subtilen, von Optimismus geprägten Klänge“.
1986 geboren und aufgewachsen in Fribourg (Westschweiz), hat Florian Favre zunächst klassisches Klavier gelernt, dann in Bern Jazz-Piano und Komposition studiert. In der Hauptstadt gründete er auch 2011 die erste Version seiner Band. Während der letzten Monate vor der Pandemie widmete er sich primär seinem noch relativ neuen Projekt Rêves de gosses,bei dem er auch als Rapper auftritt und das Trio um zwei Bläser und einen Gitarristen erweitert. Im Sommer 2019 zog Favre zurück nach Fribourg, genauer gesagt in einen kleinen, rund 20 Minuten außerhalb gelegenen Vorort. Dann wurde das Sextett von Corona jäh ausgebremst, plötzlich war an Reisen nicht mehr zu denken. Unvermittelt sah sich Favre auf sich selbst zurückgeworfen. „Bald hat sich mir die Frage aufgedrängt, wer und was ich eigentlich bin, wenn ich nicht mehr das tun kann, was ich sonst immer mache.“ Das Nachdenken über die eigene Identität führte zu einigen neuen Kompositionen, vor allem aber zu einer vertieften Beschäftigung mit der eigenen Geschichte. Und letztlich zu seinem zweiten Solo-Album nach 2014.
Ein spektakuläres, vom Kanton Fribourg gefördertes und auf dem Lac de la Gruyère gedrehtes Video (https://youtu.be/KmpFxkWPjDY) gab Favre den Impuls, sich mit dem musikalischen Erbe seiner Heimat zu beschäftigen. Und es etablierte den Begriff Idantitâ, der später zum Titel einer Komposition und des Albums wurde. Im Video improvisiert der Pianist über Adyu mon bi Payides Komponisten Pierre Kaelin (1913-1995), der hauptsächlich in Fribourg wirkte. Das Lied erzählt ursprünglich die Geschichte eines Bauern, der vertrieben wurde, weil er seine Milch mit Wasser verlängert hat.
„Nach dem Videodreh habe ich begonnen, weitere Stücke zu suchen, die ich früher in Chören gehört habe. Ich komme aus einer großen Familie, in der viel gesungen wurde, doch hatte mich diese Tradition bislang nicht besonders interessiert.“ Das änderte sich nun. Favre recherchierte und wurde fündig, insbesondere im Gesamtwerk des Komponisten Joseph Bovet (1879-1951), der als Pfarrer und Kapellmeister an die 2000 profane und geistliche Stücke geschrieben haben soll. Darunter Le vieux chaletvon 1911, das sich weltweit verbreitete und in diverse Sprachen inklusive japanisch übersetzt wurde. „Meist ist diese ‚traditionelle‘ Musik noch relativ jung“, erklärt Favre. „Bovets Stücke sind sehr populär, obwohl sie nicht im TV oder Radio laufen. Sie sind Teil unseres kollektiven Gedächtnisses und dieser speziellen Chortradition, die wir im Kanton Fribourg haben. Hier gibt es in fast jedem Dorf einen Chor, in dem die Leute unter anderem genau diese Lieder singen.“
Je mehr sich Florian Favre einarbeitete, desto entschlossener adaptierte er die Songs für sich. Er variierte Harmonien und Rhythmen und fügte neue, selbst komponierte Teile hinzu. Ganz im Geiste von Bovet, Rossini oder Berlioz, die ihrerseits das schon 1710 publizierte Stück Ranz des vachesnach ihrer persönlichen Vorstellung bearbeitet respektive in ihrem jeweiligen Werk zitiert haben. Die teils im Patois, dem Dialekt der Umgebung verfassten Titel behielt Favre selbstverständlich bei.
In seinen eigenen Kompositionen greift Favre manche Aspekte des traditionellen Lebens auf, zuweilen auch mit kritischem Blick. Don’t Burn The Wichsinniert im 5/8-Takt über die ländliche Haltung, dass jemand, die oder der anders wirkt, nicht in Ordnung ist. „Es wird über Menschen geredet, die sich optisch oder wegen ihrer Meinung unterscheiden, und die werden recht schnell diskriminiert. Beim Schreiben dachte ich an eine Person, die verrückt tanzt, und dafür wollte ich diese Person musikalisch feiern.“ Eine Anerkennung der traditionellen Lebensweise steckt dagegen in The Cowboy. „Der Klischee-Cowboy in amerikanischen Western arbeitet eigentlich fast nie wirklich mit Kühen. Mein Stück ist eine Hommage an die Schweizer Kuhhirten, die bescheiden und ohne viel Aufhebens ihren wichtigen Job erledigen. Ihrer ruhigen Haltung entsprechend spiele ich hier eher sparsam.“ Ein klarer Fall von Selbstironie prägt The dzodzet. „Man nennt hier die Leute aus der Umgebung so und das ist gar nicht abfällig gemeint. Ich hatte allerdings eine Person vor Augen, die herausgeputzt die Straße entlang geht und sich dabei allzu ernst nimmt.“
Schon seit einigen Jahren lotet Florian Favre Möglichkeiten aus, den Flügel so zu präparieren, dass abstrakt-atypische Klänge entstehen. Für die zumindest teilweise rhythmischeren Stücke Nouthra Dona di Maortsèund The dzodzeterzeugt er mittels einer Schachtel Nägel und einem Wörterbuch den leicht scheppernden, Snaredrum-ähnlichen Sound. Im sprunghaft-tänzelnden Don’t burn…nutzt Favre Dämpfer aus dem Werkzeugkasten der Klavierstimmer, um die Töne abzustoppen. So kreiert er trockene, stakkatohafte, repetitive Patterns und eine Andeutung von Kick-Drum.
Und wie fügt sich als letztes Stück des Albums Cole Porters I’ve Got You Under My Skinin das Repertoire ein? „Die traditionell gesungenen Lieder sind Teil meiner Identität, ich trage sie unter meiner Haut“, erklärt Favre. „Letztlich waren sie es, die mich beim Aufwachsen begleitet haben, mehr als Klassik und Jazz. Anfangs empfand ich die ernsthafte Beschäftigung mit ihren als eine Art Herausforderung, weil ich die Stücke gar nicht so sehr geschätzt habe, ihnen also erst eine Chance geben musste. Doch dann wurde es zu einer Liebesbeziehung, vor allem, weil ich sie anders, zeitgemäß interpretiere und eben nicht so spiele wie vor 50 oder mehr Jahren.“ Favre versteht seinen persönlichen Zugriff auf die Überlieferungen insofern auch etwas grundsätzlicher. „Es geht ja nie um die Anbetung der Asche, sondern um die Weitergabe der Glut: neue Blickwinkel und Standpunkte zu entwickeln ist doch stets essentieller Teil einer Evolution.“
Dem ist nichts hinzuzufügen. Mit seinem Album Indantità präsentiert Florian Favre stimmungsvolle, lyrische bis kraftvolle Klavier-Musik, die sich einer klaren Kategorisierung entzieht und gleichzeitig viele Anknüpfungspunkte bietet. Ihre unaufdringliche Schönheit ist charakteristisch für den Schweizer Pianisten, dessen Humor und Leichtigkeit nie leichtfertig erscheint.
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Florian Favre – Idantitâ (english)
The last album release of the Florian Favre Trio, On A Smiling Gust Of Wind, was quite a while ago, and the pause until this new record, Idantitâ, is of course also related to the pandemic. Because so far the pianist from Switzerland has not lacked positive encouragement and motivation. Right from the start, the Swiss and German-speaking press agreed: Favre is original and charming, highly talented and artistically unique. On A Smiling Gust Of Wind was even praised in England, for example by ukvibe.org: “Favre’s style is wonderfully expressionistic. He plays with an assured touch, sometimes calm and thoughtful, sometimes lyrical and dynamic.” The Bernese newspaper Bund emphasized “compositional twists, dramaturgical turns or lush groove passages,” while the Austrian magazine Concerto noted “the subtle sounds marked by optimism.”
Born in 1986 and raised in Fribourg (French-speaking Switzerland), Florian Favre first learned classical piano, then studied jazz piano and composition in Bern. In the capital he also founded the first version of his band in 2011. During the last months before the pandemic, he devoted himself primarily to his relatively new project Néology, in which he also performs as a rapper and expands his trio by two horn players and a guitarist. In the summer of 2019, Favre moved back to Fribourg, more specifically to a small suburb about 20 minutes away. Then the sextet was abruptly stalled by Corona, suddenly traveling was out of the question. Unexpectedly, Favre found himself thrown back on himself. “Soon I was faced with the question of who and what I actually am when I can no longer do what I usually do.” Reflecting on his own identity led to some new compositions, but most importantly to a deeper exploration of his own history – and ultimately to his second solo album after 2014.
A spectacular video ( https://youtu.be/KmpFxkWPjDY ) sponsored by Fribourgissima Image Fribourg and shot on Lac de la Gruyère gave Favre the impulse to study the musical heritage of his homeland. And it established the term Idantitâ, which later became the title of a composition and the album. In the video, the pianist improvises on “Adyu mon bi Payi” by the composer Pierre Kaelin (1913-1995), who mainly worked in Fribourg. The song originally tells the story of a farmer who was expelled because he diluted his milk with water.
“After the video shoot, I started looking for more pieces that I used to hear sung by choirs. I come from a big family where there was a lot of singing, but so far I hadn’t been particularly interested in this tradition.” That was changing now. Favre researched and found what he was looking for, especially in the work of the composer Joseph Bovet (1879-1951), who as a priest and chapel master is said to have written around 2,000 secular and sacred pieces; among them “Le vieux chalet” from 1911, which spread worldwide and was translated into various languages including Japanese. “For the most part, this ‚traditional‘ music is still relatively young,” Favre explains. “Bovet’s pieces are very popular, even though they are not played on TV or radio. They are part of our collective memory and this special choir tradition we have in the canton of Fribourg. Here there is a choir in almost every village where people sing precisely these songs.”
The more Florian Favre became familiar with the songs, the more decisively he adapted them for himself. He varied harmonies and rhythms and added new, self-composed parts. Completely in the spirit of Bovet, Rossini or Berlioz, who themselves adapted the piece “Ranz des vaches”, already published in 1710, according to their personal conceptions and quoted it in their own pieces. Of course Favre kept the original titles, some of which were written in patois, the dialect of the region.
In his own compositions, Favre addresses some aspects of traditional life, sometimes with a critical eye. “Don’t Burn The Witch” in 5/8 time reflects on the rural attitude that someone who looks different is not okay. “People are talked about if they are different visually or in their opinions, and they get discriminated pretty quickly. When I was writing, I thought of a person dancing like crazy, and for that I wanted to celebrate the person musically.” “The Cowboy”, on the other hand, is an appreciation of the traditional way of life. “The cliché cowboy in American Westerns almost never actually works with cows. My piece is a tribute to Swiss cowherds, who modestly and quietly do their important job. In keeping with their quiet demeanor, I play rather sparingly here.” A clear case of self-irony characterizes “The dzodzet”. “That’s what they call people from this region here, and it’s not meant in a derogatory way at all. However, I had a person in mind who walks down the street all dressed up, taking himself much too seriously.”
For some years now Florian Favre has been exploring possibilities of preparing the grand piano in a way that creates abstract-atypical sounds. For the at least partly more rhythmic pieces “Nouthra Dona di Maortsè” and “The dzodzet”, he creates the slightly clattering, snare drum-like sound using a box of nails and a dictionary. In the jauntily dancing “Don’t burn…” Favre uses dampers from the piano tuner’s toolbox to stop the notes. In this way he creates dry, staccato, repetitive patterns and a hint of kick drum.
And how does Cole Porter’s “I’ve Got You Under My Skin” fit into the repertoire as the album‘ s final track? “The traditionally sung songs are part of my identity, I wear them under my skin,” Favre explains. “Ultimately, they were what accompanied me growing up, more than Classical music and Jazz. In the beginning I felt that seriously engaging myself in them was kind of a challenge, because I didn’t appreciate the pieces that much at first, so I had to be willing to give them a chance. But then it became a love affair, especially because I interpret them differently, in a contemporary way, and don’t just play them the way they were 50 or more years ago.” In that respect, Favre also understands his personal approach to the repertoire in a somewhat more fundamental way. “It’s never about worshipping the ashes, but about passing on the embers: developing new perspectives and points of view is always an essential part of an evolution.”
There is nothing to add to that. With his album Idantità Florian Favre presents atmospheric, lyrical and powerful piano music that defies clear categorization and at the same time offers easy access points. Its unobtrusive beauty is characteristic of the Swiss pianist, whose humor and lightness never seem frivolous.