Release October 01, 2003
EAN/UPC: 705304283622
Traumton CD: 4471
Lineup
Michael Schiefel: vocals, electronics Christian Kögel: guitars, banjo Andreas Schmidt: piano, keyboards, sound effects
Recorded, mixed & mastered by Wolfgang Loos
at Traumton Studios, Berlin
Produced by Wolfgang Loos
Info / Info english
Michael Schiefel – Gay
Sein Solodebut „Invisible Loop“ verblüffte und faszinierte, sein zweites Album, die fast ausschliesslich aus Originalkompositionen bestehende Vokalsuite „I don’t belong“ geriet zur introvertiert reflektierenden Bestandsaufnahme im Spannungsfeld von Raum und Bewegung, Identität und Flucht. Auf Michael Schiefels neuestem Album dreht sich alles um die Liebe. Sehnsucht, Eifersucht, Einsamkeit und Wiederbeginn: all das findet sich in Schiefels Projekt „Gay“ wieder. Im Trio mit Andreas Schmidt (Piano) und Christian Kögel (Gitarre) erzählt Schiefel Liebesgeschichten von Ella Fitzgerald bis Portishead. Denn „wenn ein Stück emotional stimmig ist, ist es doch wurscht ob man einen fremden Titel interpretiert oder einen eigenen. Es kommt doch darauf an, was man gerade braucht“.
Ein überraschendes Statement eines Musikers, der in den letzten Jahren mit außergewöhnlichen Kompositionen und Arrangements begeisterte. Michael Schiefel hat aber eine schlüssige Erklärung dafür. „Mir war diesmal besonders wichtig, mit Musikern zusammen zu spielen und mich nicht ausschließlich auf mich selbst zu beziehen. Die Stücke sind verwurzelt in Situationen, die andere erlebt haben, die ganze Platte inklusive ihrer Entstehung kreist um Kommunikation, die Kern-Aussage ist eine gemeinschaftliche: wo sind die anderen, wo bin ich, wie sind wir gemeinsam oder eben nicht.“
Auf sehr persönliche Art interpretiert der Sänger nun selten gehörte, umso schönere Songs. „Die Idee war, dass die Lieder zum Thema Liebe, zum Thema gay und natürlich zu mir passen sollten.“ In diesem Zusammenhang ist schnell geklärt, was es mit dem Titel des Albums auf sich hat. „Er spielt mit der Doppelbedeutung von gay“, grinst Michael Schiefel, „denn der Begriff ist nicht nur Synonym für Homosexualität, sondern steht eben auch für fröhlich. Und dieses Klischee vom ewig fröhlichen Schwulen, das ja völlig sinnlos ist, wollte ich auch ein bisschen brechen.“
Über ein Jahr nahm sich Schiefel Zeit, jene zehn Titel zu finden, die seine Gefühle am besten treffen und mit denen er sich am wohlsten fühlt. Statt die üblichen Verdächtigen zu zitieren grub Schiefel aus Büchern und alten Platten fast vergessene Lieder aus. Als bekanntesten und mit Abstand jüngsten „Hit“ setzte er Portisheads „Glory Box“ in die Mitte des Albums. Das eher dunkle Stück bleibt als dramatischer Moment nicht allein, auch andere Werke loten eher verschattete Facetten des Verliebtseins aus. „Liebe ist ja kein leichtfüßiges Spiel. Manchmal fühlt man sich ganz toll, weil es gerade mal ziemlich leicht ist, aber meistens ist es doch ganz schön kompliziert.“
Auch wenn Michael Schiefel nichts von seiner indivdualistischen Kunst verlernt hat erscheint das neue Album weniger extravagant als seine Vorgänger: „Ich hatte die Idee, dass es diesmal nicht notwendig ist, alles so stark zu verschnörkeln.“ Umso mehr offenbart Gay neben wunderbarer Musikalität und intensiven Gefühlen auch wieder die enorme Ausdruckskraft dieser ungewöhnlichen Stimme. Mühelos changiert sie zwischen verschatteter Melancholie und Euphorie, haucht und schwelgt, schmachtet und wütet, kokettiert und provoziert bis in feminine Lagen. Zuweilen singt Schiefel augenzwinkernd mit sich selbst, dann wieder zieht er alle Register freier Improvisation bis zu bizarren, zuweilen elektronisch verfremdeten Scats. Tatsächlich kommt uns der Sänger in diesen Songs näher als je zuvor. Denn die Reduktion technischer Effekte und der Vokal-Akrobatik lässt Schiefels Präsenz und Persönlichkeit umso stärker strahlen. Zur neuen Direktheit entwerfen Schiefels stilsichere Begleiter Andreas Schmidt und Christian Kögel sparsame, nuancierte Klang-Räume. Filigrane Piano-Impressionen, atmosphärische Elektronik-Sounds, kleine dissonante Späße und Blues-Phrasen knüpfen ein feines Netz mit schwebenden Akkordflächen, splitternden Skalen und jaulenden Schreien der E-Gitarre. Oder, wie in dem ironischen „Get Happy“, mit skurriler Banjo-Begleitung. Im vielfach improvisierten Zusammenspiel zeigt sich das souveräne Können der beiden Berliner Profis. Schmidt spielte bereits mit Aki Takase, Lee Konitz und Gary Peacock, Kögel gewann mit seinem Trio Without the Cat mehrere deutsche Jazzwettbewerbe.
Anfang der neunziger Jahre begann die Karriere Michael Schiefels als professioneller Jazz-Sänger. Da studierte der Wahl-Berliner, 1970 in Münster geboren, noch Komposition an der Hochschule der Künste. Zwischen Projekten mit David Friedman, dem “Thärichens Tentett“ und „Jazz Indeed“ fand Schiefel Zeit, seine Solo-Alben Invisible Loop (1997) und I Don´t Belong (2000) aufzunehmen. Wobei der Begriff „Solo“ in diesem Fall wörtlich zu nehmen ist: Schiefel sang sämtliche „Instrumente“ selbst ein und abstrahierte seine virtuosen Vokal-Eskapaden später am Computer teilweise so konsequent, bis sie wie Instrumente klangen. Die kühnen, mitunter fast halsbrecherischen Variationen, Schichtungen und Collagen brachten ihm viel Ruhm und Ehre, außerdem einige Tourneen in Europa, Afrika und Asien, unter anderem auf Einladung des Goethe Institutes. „Außer ihm beherrschen nur wenige ihre Stimmen so sehr, dass sie ganze Orchester in den Ohren der Hörer erzeugen“, konstatierte das ZDF, „Al Jarreau und (…) Bobby McFerrin sind Namen, die einem dazu einfallen. Aber Michael Schiefel macht etwas wirklich neues.“ In „Klassik heute“ lobte Ralf Dombrowski: „da wächst ein Künstler heran, der sich nicht auf die Gewissheiten anderer verlässt.“
Michael Schiefel ist viel zu sehr Gefühlsmensch, um mit den vermeintlichen Sicherheiten anderer zu kalkulieren. „Ich empfinde meine Platten wie Tagebücher“, lächelt der Sänger, „selbstverständlich hat Musik für mich auch einen therapeutischen Effekt.“ Deswegen war I don´t belong ein einziger Alleingang, der sich mit dem Alleinsein befasste und entsprechend wesentlich introspektiver klang. „Gay geht jetzt durch alle Stimmungen, auch durch die harmonischen und glatten, die man in neutralen Lebensphasen wahrscheinlich so nicht spielen würde,“ freut sich Schiefel, „aber so ist das eben, wenn man sich verliebt.“
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Michael Schiefel – Gay (english)
His solo debut „Invisible Loop“ amazed and fascinated; his second album, a vocal suite consisting almost exclusively of original compositions called „I don’t belong“, took an introverted turn – a reflective stock-taking in that electric arena of space and movement, identity and escape.
On Michael Schiefel’s newest album, everything revolves around love. Desire, jealousy, loneliness, new beginnings – they can all be found in Schiefel’s project “Gay”. In trio with Andreas Schmidt (piano) and Christian Kögel (guitar), Schiefel recants love stories from Ella Fitzgerald to Portishead. “If a song is right emotionally, it really doesn’t matter if you interpret somebody else’s or one of your own. It really depends on what you need at the time.”
A surprising statement for a musician who has enthused his audience with unusual compositions and arrangements in recent years. Michael Schiefel has a conclusive explanation for this. “For me it was especially important to play together with musicians and not just relate to myself exclusively. The songs are rooted in situations that others have experienced; the whole record, even the layout, revolves around communication – the core message is a communal one: where is everybody else, where am I, how are we together or how are we not.”
In a very personal way, the singer interprets songs seldom heard but all the more beautiful. “The idea was that the songs should fit in with the theme of love, and of course with me.” In this context, what the title of the album is about can quickly be explained. ”It plays with the double meaning of the word ‘gay’”, grins Michael Schiefel, “because the term is not only a synonym for homosexuality, but also means joyful. And I wanted to break this cliché a little, of the eternally happy gay, which is completely senseless anyway.”
Schiefel took over a year to find the ten songs that best described his feelings and the ones he felt best with. Instead of quoting the usual suspects, he dug up nearly forgotten songs in books and old records. He sets the best known and by far most recent hit, Portishead’s “Glory Box”, in the middle of the album. This somewhat gloomy piece isn’t the only dramatic moment, other works plumb into the dark depths of being in love as well. “Love is no light-footed game. Sometimes you feel really great because it’s fairly easy right then, but usually it’s pretty complicated.”
Even if Michael Schiefel hasn’t forgotten any of his individual art, this album appears to be less extravagant than its forerunner. “I had the idea that it wouldn’t be necessary to get very fancy this time.” “Gay” reveals even more, along with wonderful musicianship and intense feelings, the enormous expressiveness of this unusual voice. It changes effortlessly between shaded melancholy and euphoria, breathes voluptuously, languishes and rages, flirts and provokes to the degree of femininity. At times Schiefel sings, winking at himself, pulling out all the stops in free improvisation with bizarre, at times electronically estranging scats. Indeed, the singer comes closer to us in these songs than ever before, as the reduction of technical effects and vocal acrobatics let Schiefel’s presence and personality radiate even stronger.
Schiefel’s style-solid accompanists Andreas Schmidt and Christian Kögel create Spartan sound realms full of nuances for a new directness. Filigree piano impressions, atmospheric electric sounds, little dissonant jests and blues phrases all mesh a fine net, with stretches of floating chords, splittering scales and howling screams from the electric guitar. Or, like in the ironical “Get Happy”, with scurrile banjo accompaniment. Sovereign expertise is evident in the interaction, frequently improvised, of these two Berliner pros. Schmidt has already played with Aki Takase, Lee Konitz and Gary Peacock, Kogel won several German jazz contests with his trio “Without the Cat”.
Michael Schiefel’s career as a professional jazz singer began in the early nineties. Born in Münster in 1970, he had moved to Berlin and was still studying composition at the “Hochschule der Kunst” (High School of Art). Between projects with David Friedman, the “Thärichens Tentett“ and „Jazz Indeed“, Schiefel found time to record his solo-albums Invisible Loop (1997) and I Don´t Belong (2000). Whereby the word “solo” in this case is to be taken literally. Schiefel “sang” all the instruments himself and abstracted his virtuoso vocal escapades so consequently on the computer that they sounded like instruments. The daring, almost breakneck variations, layers and collages brought him much fame and honor, and several tours in Europe, Africa, and Asia, among others by invitation from the Goethe Institute. “Apart from him, only few master their voices so well that they can create an entire orchestra in the listeners’ ears.”, pointed out ZDF (a major German broadcasting company), „Al Jarreau and (…) Bobby McFerrin are names that come to mind. But Michael Schiefel is really doing something new.” In “Klassik heute” (Classic Today – a music magazine) Ralf Dombrowski praised “ An artist is growing here, one who doesn’t rely on others’ certainties.” Michael Schiefel is much too of an emotional person to calculate with the supposed certainties of others. “I perceive my records as diaries”, the singer smiles, “Of course, music has a therapeutic effect for me.” That’s why I don’t belong was a single solo effort that dealt with being alone and accordingly sounded significantly more introspective. “Gay goes through all the moods, even the harmonious and smooth ones that you probably wouldn’t play in a neutral phase of life,” says Schiefel happily, “but that’s just the way it is, when you fall in love.”