Release October 8, 2021
EAN/UPC: 705304469927
Traumton CD: 4699
Lineup
Fabiana Striffler: violin Julia Biłat: cello Jörg Hochapfel: keys Paul Santner: guitar / bass Greg Cohen: bass Max Andrzejewski: drums
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Info / Info english
Fabian Striffler – Archiotíc
Vor rund drei Jahren verblüffte Fabiana Striffler mit ihrem Album Sweet And So SolitaryPublikum und Medien. Das Jazzpodium widmete der Geigerin und Komponistin aus Berlin eine Doppelseite und nannte ihre Musik einen „faszinierenden Klangkosmos“, der Deutschlandfunk resümierte: „Eigensinnig ist das gesamte Album von Fabiana Striffler, manchmal auch fordernd und störrisch.“ Das Magazin Concerto befand, „solche Lieder würde Gustav Mahler vielleicht komponieren, hätte ihn eine Zeitmaschine ins frühe 21. Jahrhundert katapultiert: geheimnisvoll strahlend, berührend und voll von unerhörten Klängen.“ Und selbst in England stieß Striffler auf Resonanz, etwa in Hifi Critic: „It takes great skill to make something sound so profound and so grotesque at the same time.“
Das aktuelle Werk knüpft in Teilen an den Vorgänger an, in vieler Hinsicht geht Fabiana Striffler aber auch andereWege. Konsequenter denn je überquert sie Stilgrenzen, lässt auf selten gehörte Art Virtuosität und Humor in Komposition und Ausführung umeinander tänzeln. Einen substantiellen Beitrag dazu leistet die neu zusammengestellte Band hochkarätiger und ungemein beweglicher Musiker*innen. Vereinzelte Bezüge zu Modernisten der europäischen Klassik (Strawinski, Bartók) suggerieren Strifflers facettenreiches Violinenspiel und die nicht minder freigeistige Cellistin Julia Biłat (Stegreif Orchester u.a.), mit der Striffler seit 2017 arbeitet. Der Keyboarder Jörg Hochapfel sorgt seit Jahren mit unkonventionellem Witz im genresprengenden Andromeda Mega Express Orchestra für schräge Überraschungen, zudem gilt er als äußerst sensibler Begleiter – beide Talente zeigt er auch in Strifflers Band. Max Andrzejewski und Paul Santner gehören zu den markanten Persönlichkeiten des zeitgenössischen, in viele Richtungen offenen Jazz, für den die Berliner Szene europaweit bekannt ist. Schließlich hat Strifflers Langzeitpartner Greg Cohen (Tom Waits, John Zorn u.a.) vor allem als Produzent maßgebliche Spuren auf dem Album hinterlassen.
In Strifflers Kompositionen steckt eine klare Haltung, man könnte auch sagen, eine philosophische Botschaft. „Ich möchte etwas kreieren, das die Menschen öffnet. In Coronazeiten hat sich das Phänomen noch mehr verstärkt, dass Leute sich aus dem Weg gehen. Bereits vorhandene Ängste, etwa vor Konfrontation und Verlust, vor dem Unbekannten und anderen Gedanken, wurden noch verstärkt durch die echte Ansteckungsgefahr. Ich versuche mit meiner Musik eine Plattform zu schaffen, auf der man loslassen kann. Und ich möchte dem Trend zur Entfremdung und Anonymisierung etwas persönliches entgegensetzen.“
Dass auf Archiotíc– anders als früher – nicht gesungen wird, hatte Fabiana Striffler anfangs nicht geplant. Doch dann erwies sich ein instrumentales Konzept als wesentlich stimmiger. „Mir scheint, dass das rein instrumentale Album besser in diese Zeiten des Informationsüberflusses passt. Ich wollte etwas schaffen, das mehr Freiraum lässt, seine eigenen Gedanken zu spinnen.“
Der Reichtum an Klangfarben ist auch ohne Stimmen enorm, ebenso die Spannweite und Suggestionskraft von Strifflers Stücken. Der süße Aufmacher des Albums, Maraschino Cherries, scheint melodisch zwischen Zirkus und Italo-Pop (Striffler hat ihre Kindheit in Italien verbracht) zu balancieren und bringt dafür charmant lächelnd Jazzbassgrooves, skurriles Synthiezwitschern und Geigenpizzicati zusammen. Auch das folgende Chant Of The Earthlockt mit eingängigem Leitmotiv, tendiert indes deutlich zu anglo-amerikanischen Folk-Traditionen. Die bewusste Aneinanderreihung von Wiederholungen des Themas kritisiert Repetitionen aus Werbung und Radio und kehrt deren Absicht um. „Wiederholung kann auch bedeuten, sich völlig auf etwas einzulassen und zu fokussieren. Chant Of The Earthsoll ein Aufruf sein, der Erde zuzuhören“ erklärt Striffler, „deswegen gibt es auch die beiden Reprisen. Die erste erzählt mittels einer ungewöhnlichen Kontrabass-Gitarre, wie es auf dem Planeten vor unserer Existenz aussah. Und die zweite stellt die Auswirkungen der Menschen auf der Welt dar: Schönheit und Metallschrott“.
Die im Ausklang von Chant Of The Eartherklingende barocke Truhenorgel spielt auch im direkt anschließenden Schlüsselwerk des Albums, Invitation To Sin, eine Rolle. „Das ist meine Version der Genesis. Das Stück beschreibt den Moment, an dem der Mensch vom Baum der Erkenntnis aß, lernte zu reflektieren und in seiner Nacktheit auf sich selbst zurückgeworfen wurde“, erklärt Striffler. Die Stimmen von Violine, Cello und Orgel stehen für Eva, Adam und die Schlange, das etwas irrlichternde Klavier für die Orientierungslosigkeit nach Sündenfall und Vertreibung. „Bei Komponieren habe ich mich von traditioneller Harmonielehre gelöst und stattdessen an der Unbestechlichkeit von Intuition und Zwölftonmusik orientiert. Teilweise ist das Stück sogar atonal, trotzdem klingt es nicht dissonant.“ Am Ende des Albums nimmt Memorandum Of Sinden Faden noch einmal auf. „Hier reflektiereich unser Bedürfnis nach körperlicher Nähe und Zärtlichkeit in Zeiten der Isolation durch Corona. Als es sich anfühlte wie eine Sünde, einem anderen Menschen zu nahe zu kommen.“ Geschrieben für die Solotruhenorgel zu drei Händen, figuriert Memorandum Of Sinals „ein amputiertes Duo, das nicht in der Lage ist, sich zu berühren.“
Dance Of The Elvesklingt genau so, wie man sich Musik zu diesem Titel vorstellt – ein wenig versponnen, anfangs auch zart, dann von einer magischen Kraft durchzogen, die in jazziger Spielweise kulminiert. Das Titelstück der Platte versetzt mit südamerikanischem Groove, schwelgerischen Pop- und Romantik-Flirts sowie absichtsvoll nostalgischem Sound in imaginäre Kaffeehäuser oder Bars einer vergangenen Epoche. Ähnlich wirkungsvoll, wenngleich in der Stimmung deutlich dunkler, erweckt auch Enchanted Woods(ganz im Geiste Ennio Morricones) den Eindruck eines mysteriösen Scores, zu dem die passenden Szenen noch gedreht werden sollen. Gleich darauf folgt der nächste Kontrast, wenn uns Dreamy Back Roadsmitnimmt in die USA der Gründerzeit, wo das Horn einer Lokomotive, eine Folk-Fiddle und ein knurrender Bass Strifflers Faible für Bluegrass und Americana erkennen lassen.
Insgesamt seien ihre Kompositionen, sagt Fabiana Striffler, dieses Mal wesentlich klarer als zuvor. „Ich habe recht umfassend notiert, aber zwischendrin weiße Flecken gelassen, bei denen ich auf die Intuition der Anderen baute. Dabei standen immer Aussage und Gefühl im Zentrum.“ Leidenschaftlich wird Striffler auch, wenn es um Manipulationen durch unsere zunehmend digitalisierten Umgebung. „Es ist paradox – Algorithmen suggerieren uns, dass wir brauchen, was uns ähnlich ist. Aber was soll das? Wenn es keinen Menschen mehr gibt, mit dem ich diskutieren kann, weil alle die selbe Meinung haben wie ich, alle die selbe Musik mögen wie ich, alle die selben Gegenstände haben wollen wie ich, fehlen doch sämtliche Anstöße, über Neues nachzudenken. Mich inspirieren Menschen, die ganz anders sind als ich. Genau das ist auf dem Album zu hören. Es ist nichts für Puristen, sondern für Leute, die Lust haben, sich auf etwas Neues einzulassen.“
Fabiana Striffler hat zunächst in klassischen Ensembles und Orchestern gespielt, ehe sie sich in der Jazz-Szene profilierte. Von 2013 bis 2018 von der Yehudi Menuhin Association gefördert, gehört Striffler seit 2017 zum grandiosen Andromeda Mega Express Orchestra. Daneben spielt die 33-jährige Wahl-Berlinerin seit Jahren regelmäßig Seite an Seite mit Greg Cohen. Außerdem war sie an über 40 Studioproduktionen beteiligt, arbeitete mit John Hollenbeck und Kurt Rosenwinkel, Kwabs und Awa Ly, Joey Baron und Anthony Braxton (Jazzfest Berlin 2019), der Afrobeat-Band Polyversal Souls und zuletzt der Oscar-Preisträgerin Hildur Guðnadóttir. 2016 wurde Striffler von der britischen Popband Travis für deren Album Everything At Onceengagiert. 2017 veröffentlichte sie mit dem argentinischen Gitarristen Quique Sinesi die CD Mahagoni, die als „Bestes Album“ für den VIA Award des VUT (Verband unabhängiger Musikunternehmer*innen) 2018 nominiert wurde. Das Jazzpodium notierte seinerzeit dazu: „Ein gemeinsamer Atem, ein funkelndes musikalisches Kleinod, welches von den ersten Klängen an gefangen nimmt.“
Fabiana Striffler – Archiotíc (english)
Around three years ago Fabiana Striffler amazed audiences and media with her album Sweet And So Solitary. The magazine Jazzpodium devoted a double page to the violinist and composer from Berlin, calling her music a „fascinating cosmos of sound,“ while Deutschlandfunk concluded: „Fabiana Striffler’s entire album is unconventional, sometimes even demanding and stubborn.“ Concerto magazine found that „Gustav Mahler might compose such songs if a time machine had catapulted him into the early 21st century: mysteriously radiant, touching and full of unheard sounds.“ And even in England Striffler received great resonance, for example in Hifi Critic: „It takes great skill to make something sound so profound and so grotesque at the same time.“
The current work builds on the predecessor in parts, but in many respects Fabiana Striffler also goes in other directions. More consistently than ever, she crosses stylistic boundaries and allows virtuosity and humor to intertwine in her composition and performance in a way rarely heard before. The newly assembled band of outstanding and immensely flexible musicians makes a substantial contribution to this. Striffler’s multi-faceted violin playing and the no less free-spirited cellist Julia Biłat (Stegreif Orchester and others), with whom Striffler has been working since 2017, suggest occasional references to modernists of European classical music (Stravinsky, Bartók). The keyboard player Jörg Hochapfel has been known for years for odd surprises with his unconventional wit in the genre-busting Andromeda Mega Express Orchestra, furthermore he is considered an extremely sensitive accompanist – he shows both talents in Striffler’s band as well. Max Andrzejewski and Paul Santner are among the most striking personalities of the contemporary jazz that is open in many directions, for which the Berlin scene is known throughout Europe. Finally, Striffler’s long-term partner Greg Cohen (Tom Waits, John Zorn and others) left significant traces on the album, especially as producer.
There is a clear stance in Striffler’s compositions; one could also say a philosophical message. „I want to create something that opens people’s minds. In Corona times, the phenomenon of people avoiding each other has increased even more. Already existing fears, for example of confrontation and loss, of the unknown and of different thoughts, were intensified by the real risk of contagion. With my music, I try to create a platform where people can let go. And I want to counter the trend of alienation and anonymization with something personal.“
The fact that – unlike in the past – there is no singing on Archiotíc was not initially planned by Fabiana Striffler. But then an instrumental concept turned out to be much more fitting. „It seems to me that the purely instrumental album better suits these times of overabundance of information. I wanted to make something that leaves more freedom to inspire one’s own thoughts.“
The variety of timbres is enormous even without voices, as is the expansiveness and suggestive power of Striffler’s pieces. The album’s sweet opener, “Maraschino Cherries”, seems to melodically balance between circus and Italo-pop (Striffler spent her childhood in Italy); with a charming smile it brings together jazz bass grooves, bizarre synth chirping and violin pizzicati. The following “Chant Of The Earth” also lures with a catchy leitmotif, but clearly tends towards Anglo-American folk traditions. The deliberate sequencing of repetitions of the theme criticizes the monotony of advertising and radio and reverses their intention: „Repetition can also mean to get completely involved in something and to focus. ‘Chant Of The Earth’ is meant to be an appeal to listen to the earth,“ Striffler explains, „that’s why there are the two reprises. The first tells, by means of an unusual contrabass guitar, what the planet looked like before we existed. And the second depicts the impact of humans on the world: Beauty and metal junk.“
The baroque box organ heard in the ending of “Chant Of The Earth” also plays a role in the immediately following key work of the album, “Invitation To Sin”. „This is my version of Genesis. The piece describes the moment when Man ate from the Tree of Knowledge, learned to reflect and was thrown back on himself in all nakedness,“ Striffler says. The parts of the violin, cello and organ represent Eve, Adam and the serpent, while the somewhat errant piano stands for the disorientation after the Fall of Man and the Expulsion. „When composing, I broke away from traditional music theory and instead was guided by the unerringness of intuition and twelve-tone music. At times the piece is even atonal, yet it doesn’t sound dissonant.“ In the end of the album, “Memorandum Of Sin” picks up the thread once again. „Here I reflect on our need for physical nearness and tenderness in times of isolation through Corona. When it felt like a sin to get too close to another human being.“ Written for solo box organ played three-handed, “Memorandum Of Sin” figures as „an amputated duo that is unable to touch each other.“
“Dance Of The Elves” sounds exactly as one imagines the music to this title – a bit dreamy, at first also delicate, then infused with a magical power that culminates in jazzy interplay. The album’s title track, with its South American groove, reveling pop and romance flirtations, and intentionally nostalgic sound, takes listeners to imaginary coffeehouses or bars of a bygone era. Similarly effectively, although much darker in mood, “Enchanted Woods” (very much in the spirit of Ennio Morricone) also creates the impression of a mysterious soundtrack for which the corresponding scenes are still to be shot. The next contrast follows directly when “Dreamy Back Roads” takes us to the USA of the founding era, where the horn of a locomotive, a folk fiddle and a growling bass reveal Striffler’s affinity for bluegrass and Americana.
Overall, Fabiana Striffler says her compositions are now much clearer than before. „I notated quite extensively, but left white spaces in between, where I relied on the intuition of others. The focus was always on message and feeling.“ Striffler also gets impassioned when it comes to manipulation through our increasingly digitized environment. „It’s a paradox – algorithms suggest to us that we need what is similar to us. But what’s the point? If there is no longer anyone I can have discussions with because everyone has the same opinion as I do, everyone likes the same music as I do, everyone wants the same objects as I do, there is no longer any impulse to think about new things. I am inspired by people who are completely different than me. That’s exactly what you can hear on the album. It’s not for purists, but for people who want to embrace something new.“