Release June 21, 2005
EAN/UPC: 705304586624
Traumton CD: 4482
Lineup
Beto Bianchi: acoustic guitar Letícia Coura: voice and cavaquinho Vítor da Trindade: percussion
Guest musicians:
Adriana Capparelli: vocals Bocato: trombone Claudia Sgarbi: vocals, xylophone Dudu Tucci: percussion Waldir Juvenal: percussion Wolfgang Loos: violoncello
Recorded, mixed and mastered by Wolfgang Loos, Traumton Studios 2004/2005
Recording assistant Sebastian Grau
Produced by Wolfgang Loos
Info / Info english
Revista Do Samba – Outras Bossas
Welche Klischees hat der Samba nicht über sich ergehen lassen müssen! Für deutsche Brasilien-Touristen verbinden sich mit den „heißen Rhythmen“ die gymnastischen Übungen der textilarmen Mulattinnen, die beim Karneval auf den gigantischen Prozessions-Wagen posieren. Wahlweise wird dann aber auch gerne auf das Bild vom wehmütigen Favela-Sänger zurückgegriffen, der Liebesleid und Lebensschmerz zur Gitarre intoniert. Und für die Amerikaner war der Samba schon in den 1940ern untrennbar mit der Diva Carmen Miranda verbunden, die mit polternder Bigband und reichlich affektierter Show ein verzerrtes Bild von Rio nach Kalifornien brachte. Also, was ist der Samba nun wirklich? Klangkulisse für den Tanz brauner Schönheiten, exotische Ingredienz für Hollywood-Glamour oder bittersüßes Lied aus dem Hinterhof?
Nur drei Musiker braucht es, um mit derlei Vorurteilen aufzuräumen und zur Essenz des Genre vorzudringen – kaum vorstellbar. Wenn es sich allerdings um so ausgewiesene Koryphäen handelt, wie die Dame und die zwei Herren von Revista Do Samba, dann können die versammelten Kritiker und das Publikum nur den Hut ziehen.
Nichts anderes konnte man beobachten, als das Trio aus São Paulo im Jahre 2002 seine erste Scheibe herausbrachte. „Wie der erste Frühlingshauch nach einem langen Winter“, beschrieben die Nürnberger Nachrichten ihre Lieder. „Enthusiasten ohne Pomp und Tamtam“ machten die Brasilien-Spezialisten von www.novacultura.de aus, und Jazz thing fand die Anziehungskraft der drei Paulistas im „Lächeln der Nostalgie“. Eine klare und frische, aber doch sinnliche und ergreifende Rundschau über vier Dekaden Samba-Klassiker bot das Debüt, poetische Leichtigkeit und luftige Arrangements mit Gitarre, Ukulele, Perkussion ersetzten den Bombast des Karnevals, aber auch die lamentierende Erdschwere.
Und nun lüften wir das Geheimnis – wer steckt hinter der Wurzelkur für Brasiliens altehrwürdiges Genre? Da wäre die charismatische Sängerin, Schauspielerin und Komponistin Leticia Coura, die seit mehr als 15 Jahren internationale Bühnenerfahrung besitzt. Von Tourneen durch etliche Länder Europas (darunter ein Auftritt beim Jazzfestival Montreux), über eine Adaption von Boris Vian-Songs bis hin zu einem prämierten Soundtrack reicht ihr künstlerisches Spektrum. Gitarrist und Komponist Beto Bianchi arbeitet in der Heimat und Europa als Bühnenmusiker und Produzent für Ambient- und Multimedia-Projekte, außerdem hat er sich als profunder Kenner brasilianischer Volksmusikstile erwiesen. Vitor Da Trindade schließlich hat durch seine Initiation in Brasiliens Candomblé-Religion einen starken spirituellen Background. Er studierte Musikpädagogik, Gitarre und Perkussion, lehrt heute auf vielen Festivals und in Workshops afro-brasilianischen Tanz und Perkussion und fühlt sich auch im Theater zuhause.
Nun wagen die drei vielbeschlagenen Musiker für Traumton Records einen weiteren gewitzten Schritt aufs neugestaltete Samba-Parkett. Der Titel „Outras Bossas“, der klingt ja zuerst mal gar nicht nach Samba. Eher nach den berühmten Grooves, die unter dem Prädikat „Bossa Nova“ den Samba in den 1950ern aufs Abstellgleis verbannten, oder? In Wahrheit tauchen die „Revistas“ damit tief in die Samba-Historie hinab: 1932 war es, als der spleenige Poet Noel Rosa, geschätzt für seine brillante Beobachtungsgabe und sozialkritische Schärfe, in seinem Titel „Coisas Nossas“ folgende Zeile dichtete: „Der Samba, leere Taschen und ‚andere Beulen‘ (outras bossas), das sind unsere Spezialitäten.“ Angeregt worden war Rosa zu dieser Vokabel durch sein kurzes Medizinstudium. Dort hatte er erfahren, dass die Herren Doktoren in früheren Zeiten eine gewisse beulenartige Stelle am Schädelknochen (auf Portugiesisch „bossa“, auf Deutsch der im Volksmund so schön titulierte „musikalische Hinterkopf“!) für das künstlerische Talent einer Person verantwortlich machten. Mit seiner berühmten Zeile fing Noel Rosa nicht nur das Bohème-Leben seiner Artgenossen ein, sondern verursachte auch, dass fortan das Wörtchen „bossa“ auf die Launen kreativer Musiker angewandt wurde, wenn die mit unorthodoxer Sing- und Spielweise sowie genialen neuen Eingebungen auffielen.
Es könnte keinen treffenderen Titel für die zweite CD von Revista Do Samba geben. Denn mit genau jenem kecken Esprit der frühen Noel Rosa-Epoche, gleichzeitig funkensprühend vor außergewöhnlichen neuen Ideen präsentiert sich der Parcours über 13 Titel brasilianischer Musikgeschichte. Das Spektrum ist nun gar auf acht Jahrzehnte gespreizt, zeigt den Samba von seiner patinabesetzten Seite genau wie von der hochaktuellen. Wie ein roter Faden zieht sich die lyrische Finesse fernab der sonst so üblichen Plattitüden des heutigen Kommerz-Sambas. Der eben zitierte Noel Rosa und einige Zeitgenossen verkörpern die aufmüpfige und stichelnde Lyrik der 1930er, der rasante Chôro „Tico Tico“ führt zurück in die Tage des Samba-Vorläufers, und mit einer melancholischen Perle der Legende Cartola komm der Samba von den Hügeln, aus den Favelas, zum Zuge. Aber auch moderne Auseinandersetzungen mit der Gattung sind anzutreffen. Ein liebenswerter Urwald erwacht im „Samba Dos Animais“ von Jorge Mautner, und der einstige Rock-Avantgardist und Wortkünstler Arnaldo Antunes, derzeit mit Carlinhos Brown und Marisa Monte als Tribalistas erfolgreich, steuert eine sprachspielerische Widmung an eine Tänzerin bei. Und nicht zuletzt kann auch Leticia Coura ihr Kompositionstalent in zwei „Neo-Sambas“ ausreizen.
Alle Titel zeichnet eine feinnerviges Musizieren auf Gitarre, Cavaquinho (Ukulele) und einem ganzen Arsenal von Schlagwerk aus, leutselige und verschmitzte Vokal- und Chor-Arbeit bringt die Lyrik zur Geltung, ab und an bereichert man die Arrangements durch launiges Hereinposaunen oder ein Xylophon. In der Perkussionsabteilung blitzt auch mal Prominenz mit Dudu Tucci hervor. Produziert wurde das Werk wiederum im Traumton Studio Berlin von Wolfgang Loos, der sich u.a. Cello spielend in dem wunderbaren Cartola-Stück auch selbst beteiligt.
“ Der Samba erfordert Ungezwungenheit, und du musst wissen, er ist das Gebet des kleinen Mannes“, heißt es in einem Lied vom Klassiker Laurindo De Almeida. Diese schöne Zeile könnte auch als Motto über der Musik von Revista Do Samba prangen.
Anspieltipps:
– „A Chuva“ (2): Das Stück aus Leticia Couras Feder macht die hektische Atmosphäre des modernen Rios tragikomisch greifbar. Die Dichterin beklagt sich über den Verlust von Identität und materiellen Gütern, wünscht sich drei Tage Regen um ihre Seele reinzuwaschen – das alles zum funky Soundtrack von Ukulele, Posaune und dem Bindfadenregen der Perkussion.
– „O Horóscopo“ (5): Eine reizende Miniatur mit swingendem Cavaquinho, die ganz im Stile der Samba-Poeten von Liebesglück erzählt, das genauso schnell kommt wie verblüht. Schuld ist diesmal das Horoskop, das falsche Voraussagen getroffen hat.
– „Samba Dos Animais“ (11): In diesem Szenario des Songschreibers Jorge Mautner erzählt gleich eine ganze Arche Noah lautmalerisch von den Zeiten, als der Mensch sich noch mit den Tieren verständigen konnte.
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Revista Do Samba – Outras Bossas (english)
What clichés has samba not had to suffer? There are those “hot rhythms” for the gymnastic gyrations of scantily clad mulatto girls, then the melancholic favela singer intoning love songs and the pain of life to the guitar, and finally, the diva Carmen Miranda who brought a distorted picture of Rio to California with her booming big band and mightily affected show. But what is samba really?
You only have to have three musicians to get back to the real essence of this genre. A lady and two gentlemen from São Paulo are the ones music critics and audiences alike tipped their hats to already in 2002 – namely the year their debut album was released. “Like the first spring breeze after a long winter” (Nürnberger Nachtrichten), “Enthusiasm without pomp and circumstance” (www.novacultura.de), “the “smile of nostalgia” (Jazz thing), was the talk around this band. A clear and sensuous overview of four decades of samba classics was what their first release had to offer, poetic ease instead of the bombast of carnival or the heavy lament of the favelas.
Who’s behind this root treatment for Brazil’s most honourable genre? There would be the charismatic singer, actress and composer Leticia Coura with her international stage experience of more than 15 years. Her artistic portfolio includes tours through quite a few European countries, an adaptation of Boris Vian songs, and a prize-winning soundtrack. Guitarist/composer Beto Bianchi works at home and in Europe as a stage musician and producer for ambient- and multimedia-projects – he has also proven himself as a profound expert of Brazilian folk music styles. And finally Vitor Da Trindadet, through his initiation in Brazil’s Candomblé religion, brings in a strong spiritual background. He studied music pedagogy, guitar and percussion, and today teaches Afro-Brazilian dance and percussion at numerous festivals and workshops. He feels right at home in theatre as well.
Now the three well-versed musicians have dared another crafty step onto the newly designed samba parquet. The title, “Outras Bossas” doesn’t even sound like samba at first but more like its competitor, bossa nova. But what the “Revistas” are actually doing here is dipping deep into samba’s history. It was in 1932 that the nutty poet Noel Rosa, highly regarded for his brilliant gift of observation and sharp social criticism, penned the following lines in the title “Coissas Nossas”: “The samba, empty pockets and other bumps, these are our specialties.” What inspired Rosa to this vocabulary was his brief study of medicine. That’s where he learned that in the old days, doctors used to ascribe artistic talent in a person to a certain bump-like spot on the skull (in Portuguese “bossa”, or the “musical bone” as a German colloquialism so nicely put it). It was with these famous lines that Rosa started off the tradition of using the term “bossa” for the moods of creative artists when they thought up unorthodox ways of singing and playing or had novel, ingenious inspirations.
There couldn’t be a more suitable title for Revista Do Samba’s second CD. They present their unusual and fiery new ideas with the same saucy wit of the old Noel Rosa epoch in a show-jump over 13 greats of Brazilian music history. The spectrum stretches across 8 decades, showing samba from its venerable traditional side as well as its highly modern one. The lyrical finesse of this band rises up like a kite away from the oh- so-usual commercial samba of today. We meet the rebelliously biting poetry of the 1930’s from Rosa and his contemporaries, the vivacious Chôro „Tico Tico“ from pre-samba days, and real melancholy from the favelas with Cartola. A lovely rain forest is awakened in “Samba Dos Animais” by Jorge Mautner and the one-time rock avant-gardist and word artist Arnaldo Antunes contributes a word-playing dedication to a dancer. Last but not least, Leticia Coura can outbid her own composing talent in two “Neo-Sambas”. All the songs are marked by sensitively refined guitar and cavaquinho (ukulele) playing as well as an arsenal of drums and percussion; affable and mischievous vocals set off the lyrics, now and then the arrangements are enriched with a witty burst of horns or a xylophone. In the percussion department, prominence like Dudu Tucci makes a shining appearance – the album was produced by Wolfgang Loos from Traumton Studio Berlin, with him playing the cello himself on the wonderful Cartola track.
“ Samba requires casualness and informality. And you must understand that it is the prayer of the little man on the street”, it says in a song by the classic Laurindo De Almeida. This lovely line could be emblazoned on their brows as Revista Do Samba’s musical motto.
Listening tips:
– „A Chuva“ (2): The song penned by Leticia Couras makes the hectic atmosphere of modern Rio tragically and comically tangible. The poet laments the loss of identity and material possessions – all this to a funky soundtrack of ukulele, trombone, and percussion coming down like sheeting rain.
– „O Horóscopo“ (5): A delightful miniature, telling the tale of rapidly evaporating love. The horoscope with its false predictions is to blame
– „Samba Dos Animais“ (11): In this scenario heavily laden with onomatopoeia, all the passengers of Noah’s ark tell about the times when man and animal could still understand each other’s speech.