Release September 25, 2009
EAN/UPC: 705304452820
Traumton CD: 4528
Lineup
Michael Schiefel: vocals Sven Klammer: trumpet, flügelhorn Jan von Klewitz: alto sax, sopran sax, clarinet Andreas Spannagel: tenor sax, flute Nikolaus Leistle: baritone sax, bass clarinet Sören Fischer: trombone Kai Brückner: guitars Johannes Gunkel: bass Kai Schönburg: drums Nicolai Thärichen: piano, composition
Produced by Nicolai Thärichen
Reorded December 2008
Mixed February/March 2009 by Volker Greve at GREVE-Studios Berlin
„I Can See It in Your Eyes“ mixed by Sven Klammer February/March 2009
Mastered by Wolfgang Loos at Traumton Studios Berlin
Cover design and artwork by Gero Desczyk (www.desczyk.de)
The composer wishes to thank the National Association for the Advancement of Colored People for authorizing this use of Dorothy Parker’s work.
„Unadored“ from DO YOU LOVE ME by Ronald D. Laing © 1976 by Ronald D. Laing
Used by permission of Karen Laing and the R D Laing Estate.
„If“ from THE COLLECTED POEMS OF ROBERT CREELY, 1975-2005 by Robert Creely, © 2006 by the Estate of Robert Creely.
Published by the University of California Press.
Info / Info english
Thärichens Tentett – Farewell Songs
Kurzer Blick zurück, Deutschland im Jahr 2001: Immer mehr Jazzmusiker ziehen in die Hauptstadt, es heißt, es entstehe dort ein neuer Sound, unbeschwert, verspielt, exzentrisch. Skeptiker nörgeln am Berlin-Hype, doch mit etwas zeitlichem Abstand lässt sich die Tragweite der Entwicklung nicht mehr leugnen: Es schält sich zu jener Zeit eine Spielart des Jazz heraus, die das Originelle zum größten Gut erklärt, ohne dabei gegen Traditionen zu rebellieren; die Pop mag und auch Kammermusik, Big Band Swing genauso wie Frank Zappa; und die sich nicht damit zufrieden gibt, die Mauern der Kategorien einzureißen, sondern aus der neu entstandenen Freiheit einen eigenen Stil formt. Folglich sind es nicht einzelne virtuose Solisten, die den Ton angeben, sondern improvisierende Komponisten. Allen voran der Pianist Nicolai Thärichen, der 2001 „Lady Moon“ veröffentlicht, die erste CD seines Tentetts. Ein irrer Wurf: Er nimmt sich Gedichte vor, ganz unjazzgemäße, von Lord Byron, Thomas Hardy und Ronald D. Laing. Versammelt einige der besten Jazzer Berlins zu einem Klangkörper, den er biegt und knetet, bis aus den Gedichten tanzende Skulpturen werden, die sich aufbäumen können zu einer donnernden Big Band, um sich im nächsten Moment filigran zu verschlanken, als hätte man es mit kammermusikalischen Giacomettis zu tun. Und er toppt das ganze mit der Stimme Michael Schiefels, der androgyn, sinnlich, überdreht, virtuos, kurz: völlig durchgeknallt ist, jedenfalls wenn er auf der Bühne steht und sich in eine „Scat-Rampensau“ (Josef Engels in „Rondo“) verwandelt. Thärichen, damals 31, ist geglückt, was Künstler meist nur einmal im Leben schaffen: Er hat eine tragende Idee gefunden, einen Masterplan für eine ganze Künstler-Laufbahn. Diesen gestaltet er in den folgenden Jahren mit den Alben „The Thin Edge“ (2003) und „Grateful“ (2005) konsequent aus. Sein Tentett bleibt ihm so gut wie ohne personelle Veränderungen erhalten. Auch seine Lieblingsdichter bleiben ihm treu, v.a. Ronald D. Laing, Mitbegründer der Anti-Psychiatriebewegung und gnadenloser Sarkast; andere, wie Dorothy Parker, kommen hinzu. Und das Publikum? Wird von Jahr zu Jahr, von CD zu CD, enthusiastischer. Die SZ preist Thärichens Tentett als „das kompositorisch Gelungenste, arrangementtechnisch Ausgefeilteste und in der Präsentation Humorvollste, was derzeit in Deutschland von einer größeren Besetzung kommt“. Und über Michael Schiefel urteilt die FAZ: „Einen solchen Jazzsänger hat Deutschland vielleicht noch nie gehabt“.
Nun also, acht Jahre nach dem Debüt, Album Nummer vier. Und was liest man im Titel? „Farewell Songs“! Thärichen nimmt Abschied? Das klingt so melancholisch, man fragt sich, wie das zum Temperament dieser Band passen soll. Der mittlerweile 39-Jährige wird doch hoffentlich nicht einer Midlife-Crisis anheim gefallen sein?
Kein Grund zur Sorge: Nicolai Thärichen und seinem Tentett geht es bestens. Musiker wie Stücke sprühen vor Ideen. Das AC/DC-Cover „Up to my neck in you“ macht den Anfang, virtuos arrangiert, volle Kraft voraus. Und doch: Um Abschied geht es in beinahe jedem Stück. „Farewell Songs“ ist Thärichens persönlichste Platte bisher. Tiefe Einschnitte der letzten Zeit fließen in die Musik ein. Die dreiteilige „Farewell Suite“ widmet er seinem kürzlich verstorbenen Vater, dem Komponisten, Autor und langjährigen Solo-Pauker der Berliner Philharmoniker, Werner Thärichen (1921-2008). Doch wie nur vertont man den Abschied vom Vater? Nicolai Thärichens musikalische Trauerarbeit umfasst ein ganzes Gefühlsspektrum: Die Suite schreitet von Trauer und Schmerz („Waltz for my Father“) zum fragenden Innehalten („Strange Bells“) und findet beim Song „If“ ein versöhnliches Ende in den lapidaren Zeilen Robert Creeleys: „…you’ve had the world, such as you got. / There’s nothing more, there never was.“ Thärichen erreicht mit dieser Suite eine neue Dimension kompositorischer Reife. Bei seinem Tentett erklingt ein Gefühl wie Trauer nicht als Zustand, sondern als Prozess: Während zwei der großen Lyriker unter seinen Solisten – der Trompeter Sven Klammer und der Flötist Andreas Spannagel – in ihren Soli klangfarbliche Introspektion betreiben, beginnt die Band zu brodeln, bis Trauer in Wut und Aggression umschlägt. Verlust heißt hier auch, dem inneren Kontrollverlust zu begegnen.
Abschied à la Thärichen hat allerdings nicht zwangsläufig mit Trauer zu tun. In Dorothy Parkers Gedicht „On being a woman“ wird selbstironisch über die allzumenschliche Entscheidungsschwäche hergezogen: Bin ich in Rom, will ich nach Hause, bis ich zuhause, will ich nach Rom. Eine solche Steilvorlage lässt sich Michael Schiefel nicht nehmen: Er legt los mit einer Scat-Improvisation, aber nicht getreu den Konventionen des Jazz, sondern in der Stimme eines überkandidelten Opernhelden. Sein Vibrato trieft vor Camp-Pathos, zwischendrin wähnt man sich in der Bohemian Rhapsody, und als ob das alles nicht schräg genug wäre, beginnen die Bandmitglieder auch noch, den Rhythmus als Human Beat-Box zu sprechen. Nicht wie es Hip-Hopper tun, bumm-tscha-bumm, sondern mit extrem merkwürdigen Lauten. Hört man richtig? Singen die da wirklich „Bumm da-ga-disch uh-uh-dicke Backe“? Exaltiert und skurril: Die Abschiede des Thärichen Tentetts machen richtig Spaß. Erst recht, wenn die Galligkeit Ronald D. Laings zum Zuge kommt („Unadored“). Wenn der Partner einen behandelt wie Dreck, warum ihn nicht verlassen mit Worten wie diesen: „It’s none to soon / for a new spittoon / and something else to shit in“? Dazu der funkige Groove im 7/4-Takt: Tür zuschlagen im Tanzschritt. Auch das kann man lernen von Thärichens Tentett.
Ganz anders dagegen die ruhig dahin gleitende Ballade „This Time“: Hier geht es dann doch noch um die Liebe. Ausnahmsweise sogar um eine glückliche, und dabei unerwartete. Manches Gefühl, auch das ist Thema dieser sehr persönlichen Platte, versteht man eben erst mit der Zeit.
Die „Farewell Songs“ von Thärichens Tentett klingen so abgeklärt wie tiefgründig, sind todernst und total abgedreht. Sie handeln vom Verlieren und vom Finden, und davon, dass man das eine selten ohne das andere bekommt.
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Thärichens Tentett – Farewell Songs (english)
In the ten years of its existence, Thärichens Tentett has been lauded as the band that delivers “the most felicitous compositions, the most polished arrangements, and the most humorous presentation of all larger German jazz groups” (Süddeutsche Zeitung). And the major newspaper Frankfurter Allgemeine Zeitung said about vocalist Michael Schiefel: „Germany has perhaps never had such a jazz singer.“ Audiences, too, have become more and more enthusiastic during the years that spanned from the publication of the tentet’s first album Lady Moon to their third record Grateful, from their first performance at the A-Trane (Berlin) in 1999 to their concerts in China and India in 2009 and 2010. In 2009, ten years after its inception, Thärichens Tentett published their fourth album: Farewell Songs. Is Thärichens Tentett saying goodbye?
There is no need to worry, Nicolai Thärichen und his tentet are doing just fine. The music might have become more mature, but it is no less freaky. Thärichens Tentett faces the serious side of life with a good deal of irony. While Sven Klammer’s flugelhorn mourningly bids a last farewell to the lightheartedness of adolescence in “The last day of my youth,” Kai Brückner’s guitar quickly brings back the olden days with full force in Thärichen’s virtuoso cover-arrangement of AC/DC’s “Up to my neck in you.”
In “On being a woman,” composed on a poem by Dorothy Parker, the tentet mockingly muses about the eternal difficulty of having to decide between two choices. When I am in Rome, I want to go home; when I am at home, I want to go to Rome. Michael Schiefel rises to the occasion with flying colors; he cuts loose with a scat improvisation, not a conventional jazzy one, but with the voice of an overblown opera singer. Saying goodbye with Thärichens Tentett can actually be lots of fun. Especially when Ronald D. Laing’s acerbity gets its turn (“Unadored”). If your partner treats you like dirt, why not leave him or her with words such as: “It’s none to soon / for a new spittoon / and something else to shit in”? Add a funky 7/4 groove, and off you go, slamming the door in a dancing step.
Yet, Thärichen’s music is also influenced by the critical moments in life he has recently experienced. The threepart “Farewell Suite” is dedicated to his father, who passed a short time ago – composer, author and solo timpanist of many years with the Berlin Philharmonic Orchestra, Werner Thärichen (1921-2008). But how do you put a farewell to your father into music? Nicolai Thärichen’s musical mourning covers an entire spectrum of feelings: The suite strides from grief and pain (“Waltz for my Father”) to a questioning halt and introspection (“Strange Bells”), and finds in the song “If” a conciliatory end with Robert Creeley’s succinct lines: “…you’ve had the world, such as you got. / There’s nothing more, there never was.”
The peacefully flowing ballad “This Time” is about love, eventually. For once, even about a happy one, and quite unexpectedly so. This is also a theme of this very personal record: Some feelings can only be understood with time.
The Farewell Songs by Thärichens Tentett sound as worldly-wise as they do profound, are both deadly serious and completely far-out. They are about losing and finding – and about the fact that you seldom get one without the other.